Iustitias verbundene Augen
Iustitia, die Göttin der Gerechtigkeit und des römischen Rechtswesens, lächelt am Frankfurter Römer huldvoll vom Brunnen herab. Den Ölzweig in ihrer Rechten hat sie gegen ein Schwert austauschen müssen. Gedanken zum Sonntag "Judika" von Pfarrer Rainer Czekansky aus Weidelbach.
Alles, was Recht ist – wenn es nach der Mehrheit der Menschen in unserem Land ginge, dann würden alle Atomkraftwerke abgeschaltet. Dauerhaft, nicht nur für die Zeit einer technischen Überprüfung. Weil so etwas, wie es in Japan geschehen ist, sich bei uns nicht wiederholen soll. Abschalten, sofort!
Aber geht so etwas überhaupt in einem Rechtsstaat, dass man bestehende vertragliche Verpflichtungen ignoriert? Ist das Unrecht dann rechtens, wenn es dem Mehrheitswillen folgt?
Alles, was Recht ist – jenes andere Unrecht war allzu schnell mehrheits- und salonfähig und scheint schon abgehakt, weil die Tagesordnung andere Prioritäten setzte. Aber der Betrug zur Erschleichung eines Titels bleibt trotzdem Unrecht. Die ehrlichen und an ihrer akademischen Karriere hart arbeitenden jungen Leute fühlten sich geohrfeigt.
Mehrheitsmeinung hin oder her. Alles, was Recht ist – vor Gericht und auf hoher See sind wir in Gottes Hand! Das wussten schon die alten Römer und verabschiedeten sich damit von der Vorstellung einer unabhängigen und neutralen Rechtsprechung. Was Recht war, das entschied sich oft genug an Macht und Finanzkraft der beteiligten Parteien. Recht haben und Recht bekommen sind eben zweierlei.
Iustitia, die Göttin der Gerechtigkeit und des römischen Rechtswesens, lächelte huldvoll ob solch ungerechter Zustände. Der Ölzweig in ihrer Rechten mahnte indes zur Friedfertigkeit, die Waage in ihrer Linken erweckte zumindest den Anschein ausgewogener Urteilsfindung. Später dann, als man dazugelernt hatte, verband man ihr die Augen und drückte ihr ein Schwert in die rechte Hand. Will sagen: jetzt geht´s ohne Ansehen der Person an die Durchsetzung des Rechts, wie auch immer.
Im Zweifelsfall aber gilt der Unschuldsvorbehalt. Darum neigte man die Waage noch ein wenig. Das sollte genügen. Aber so einfach ist es wohl nicht zu machen mit dem Recht. Oft genug geht es eben nicht mit rechten Dingen zu unter uns. Und dann? Was tun, wenn man den ‚Kürzeren‘ zieht, sich also Benachteiligungen gefallen lassen muss? Wenn mein Recht, wie es einer tief im Alten Testament vermutet, sogar an Gott vorübergeht (Jes. 40,27)? Ich will dann nicht einfach resignieren und mich abfinden. Jesus hätte das gewiss auch nicht getan. Ihm nach sind Christen ja keineswegs schicksalsergebene Wegducker. Sie stehen vielmehr für jene Rechtsordnung Gottes, die zuerst und zuletzt danach fragt, was den Menschen hilft und nützt. „Gott, schaffe (du) mir Recht und führe meine Sache (Psalm 43,1)“ betet der Wochenspruch zum Sonntag Judika und befiehlt mich damit in die letzte Instanz. Iustitias verbundenen Augen zum Trotz.
Rainer Czekansky ist evangelischer Pfarrer in Weidelbach.
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