„Unter deinem Schirmen…“
Ein schlechter Werbetext? Mit falscher Grammatik? Der weiße Regenschirm mit der merkwürdigen Aufschrift lässt Ulrike Schmidt nicht los. Mehr in ihrem Impuls zur Zeit...
Es regnet, wie so oft in diesen Sommerwochen. Die Frau, die vor mir hergeht, spannt einen großen weißen Schirm auf. Als sie ihren Weg fortsetzt, sehe ich, dass der Schirm einen dunkelblauen Aufdruck hat. Ich versuche zu entziffern: „Unter Deinem…Schirmen.“ Merkwürdiger Werbetext. Macht doch gar keinen Sinn. Irgendetwas stimmt da auch nicht mit der Grammatik. Außerdem fehlt die Marke. Für wessen Schirm wird denn hier geworben?
Zuhause fällt es mir dann ein: Bach, die Motette „Jesu, meine Freude“. Das ist es: „Unter deinem Schirmen…“ ist ein unvollständiges Zitat aus der zweiten Strophe des Liedes „Jesu, meine Freude“. – Dazu eine Erzählung: Eine Mutter betet mir ihrem Kind. Einem zitternden Kind, das nicht schlafen kann, weil es Angst vor Luftangriffen hat. Sie wohnen in der Stahlstadt Essen im Jahr 1942. Niemand kann dem Kind versprechen, dass es heute Nacht keine Angriffe geben wird. Aber die Mutter versucht der kleinen Seele auf andere Weise Ruhe zu geben. „Unter Deinem Schirmen“ betet sie mit dem Kind, „bin ich vor den Stürmen aller Feinde frei“. „Wirklich?“ fragt das Kind. Und dann auch noch: „Kennt der liebe Gott denn die Engländer?“ Das Wort „Feind“ verbindet sich mit dem Kind sogleich mit dem Begriff „Engländer“.
Die Mutter hält kurz inne: „Natürlich kennt Gott auch die Engländer. Er liebt sie, wie uns. Und die englischen Kinder haben genauso Angst vor unseren Bomben wie wir vor ihren.“ Dann betet sie weiter: „Lass den Satan wettern, lass die Welt erzittern. Mir steht Jesus bei. Ob`s mit Macht gleich blitzt und kracht…“ Das Kind ist beeindruckt, wie realistisch da vom Krieg gesprochen wird. Denn das kennt es, das Blitzen und Krachen, dieses Welt-Erzittern, das einem die Kehle zuschnürt vor Angst. Es ist froh, dass das Gebet davon redet. Als die Mutter dann bei der dritten Strophe angekommen ist und mit den Worten schließt: „Gottes Macht hält dich in Acht, Erd und Abgrund muss verstummen, ob sie doch so brummen“, da wickelt sich das Kind in diese Worte ein wie in eine Sicherheitsdecke und kann schlafen.
Das Lied „Jesu, meine Freude“ schrieb einst Johann Franck 1653. Er kannte die Schrecken des 30-jährigen Krieges und die Bedrohung für Leib und Leben. Menschen sind zu allen Zeiten und in allen Zusammenhängen auf der Suche nach Schutz und Schirm. Das fängt beim Regenschirm an und hört bei militärischen Radarschirmen noch lange nicht auf. Schirme allerlei Art haben Hochkonjunktur.
Im Tiefsten wissen wir freilich, dass all unsere großen und kleinen „Abschirmmaßnahmen“ vergeblich sind. Den Tod werden wir nicht los. - Ein Johann Franck oder auch ein Johann Sebastian Bach kommen daher und setzen sich vor unseren Augen unter den Schirm des Höchsten! Nur dieser Schirm hat Angst lösende Macht.
Ein Regenschirm musste erst daherkommen, um mich neu daran zu erinnern.
Ulrike Schmidt ist evangelische Pfarrerin in Dillenburg.
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